Die Brunft der Rothirsche

Früh morgens hallt das Röhren der Hirsche durch die Wälder. Die Brunft ist in vollem Gange. So nennt man die Paarungszeit der Rothirsche, welche jeweils mehrere Wochen im September und Oktober stattfindet. Dichter Nebel umhüllt die Landschaft, und ein intensiver, erdiger Duft liegt in der Luft. Mein Vater und ich sind in einem Arvenwald unterwegs und halten Ausschau nach den Rothirschen. Es ist noch stockdunkel, und der Sternenhimmel über uns ist wunderschön.

Beeindruckende Winterlandschaft.

In der Nacht zuvor hat es geschneit, und die Winterlandschaft ist beeindruckend. Doch diese Schönheit hat auch ihre Tücken: Wir sinken ständig im frischen Schnee ein. Schritt für Schritt bewegen wir uns vorsichtig auf dem Wanderweg vorwärts, so leise wie möglich – wir wollen die Hirsche nicht verscheuchen, bevor wir sie entdecken. Plötzlich bleibt mein Vater stehen. Ein mächtiger, kapitaler Hirsch kreuzt den Weg. Mehrmals lässt er sein tiefes Röhren erklingen, doch schon nach kurzer Zeit verschwindet er wieder im Dickicht.

Oberhalb der Waldgrenze angekommen.

Schliesslich geht die Sonne auf und erleuchtet die Berge.

Kurz vor Sonnenaufgang erreichen wir die Waldgrenze. Nun sind wir den scharfen Augen und dem ausgeprägten Geruchssinn der Hirsche völlig ausgesetzt. Das Tal, in dem wir uns befinden, bietet nur wenige Versteckmöglichkeiten. Wir verzichten nun auf Gespräche und flüstern nur noch, wenn es unbedingt nötig ist.

Vorsichtig überqueren wir einen Bachlauf.

Von beiden Talseiten ertönt das eindrückliche Röhren der Hirsche. Vorsichtig überqueren wir einen Bachlauf und achten darauf, nicht auf den glitschigen Steinen auszurutschen.

Red Deer · Rothirsch // 1/1000 sec | f/6.3 | ISO 1250 | 600 mm

In der Ferne entdecken wir einen Stier – einen ungeraden Zwölfender. Langsam versuchen wir, uns dem Stier zu nähern. Wir bewegen uns geduckt, fast kriechend über den verschneiten Boden. Hinter einem grossen Stein machen wir Halt und beobachten ihn, ohne dass er uns bemerkt. Unser Plan geht auf. Der Stier nimmt uns nicht wahr und schreitet langsam in unsere Richtung. Irgendetwas scheint seine Neugier geweckt zu haben. Er kommt immer näher – so nah, wie ich noch nie einem Stier begegnet bin. Ich habe meine Kamera bereits auf dem Stein platziert und es gelingt mir, diesen besonderen Moment festzuhalten. Mit seinen grossen Augen blickt der Stier direkt in unsere Richtung.

Red Deer · Rothirsch // 1/1000 sec | f/6.3 | ISO 400 | 600 mm

Ein Gefühl von Aufregung durchströmt mich, vermischt mit einem überwältigenden Glücksgefühl. Endlich geht ein lang ersehnter Traum in Erfüllung. Nach zahlreichen erfolglosen Versuchen gelingt es mir, eine nähere Aufnahme eines Hirsches zu machen. Doch der Stier verweilt nicht lange und verschwindet röhrend auf der Suche nach Hirschkühen, hinter einer Steinböschung.

Phänomenale Lichtverhältnisse.

Aus dem Tal steigt bald dichter Nebel auf.

Der Sonnenaufgang ist wunderschön, und zeitweise sind die Lichtverhältnisse einfach phänomenal. Doch bald zieht dichter Nebel über die Berge und verdeckt die Sonne. Wir entschliessen uns, weiterzugehen und entfernen uns weiter vom Bachlauf, bis wir auf der anderen Talseite ankommen.

Kletterei durch schneebedeckte Bruchsteinfelder.

Wir steigen den Hang hinauf, der zunehmend steiler wird. Bald müssen wir durch Bruchsteinfelder navigieren und darauf achten, auf den schneebedeckten Steinblöcken nicht auszurutschen.

Hinter einem Felsbrocken gut versteckt können wir die Hirsche beim Äsen beobachten.

Schliesslich erreichen wir einen grossen Felsbrocken, hinter dem wir uns gut verstecken können. Einige Hirschstiere mit ihren Kühen und Kälbern befinden sich wenige hundert Meter von uns entfernt auf einer steilen Bergflanke. Die Kühe sind am Äsen, während die Stiere röhrend um ihr Rudel marschieren, um dieses vor Nebenbuhlern zu verteidigen. Auch hier ist Vorsicht geboten, da Hirschkühe sehr aufmerksam sind. Im Gegensatz zu den erregten Stieren sind die Hirschkühe äusserst sensibel und fliehen sofort, sobald sie auch nur den geringsten Verdacht schöpfen, uns beispielsweise sehen, hören oder riechen. Ich versuche, Fotos der Hirsche im Nebel zu machen, doch es erweist sich als nahezu unmöglich, unter diesen Bedingungen scharfe Aufnahmen zu erzielen.

Northern Nutcracker · Tannenhäher // 1/1250 sec | f/6.3 | ISO 160 | 600 mm

Für einen kurzen Moment können wir einen Tannenhäher beobachten. Er scheint auf Futtersuche zu sein. Auch nach langem Warten lichtet sich weder der Nebel, noch nähern sich die Hirsche. Deshalb beschliessen wir, uns vorsichtig den Hirschen zu nähern. Es geht weiter bergauf, vorbei an einem Gebirgsbach und entlang einer steilen Felswand. Ein schöner Stier liegt auf einer Anhöhe. Hinter ihm, gut getarnt, entdecken wir Hirschkühe. Nur noch wenige Meter trennen uns von den Tieren. Ich hole vorsichtig meine Kamera hervor und versuche, den Stier unbemerkt zu fotografieren. Doch für ein perfektes Foto reicht es nicht, da der dichte Nebel weiterhin die Sicht einschränkt.

Red Deer · Rothirsch // 1/2000 sec | f/6.3 | ISO 160 | 600 mm

Der Hirsch bemerkt uns nicht. Schliesslich erhebt er sich langsam und geht hinter eine Böschung. Wir entscheiden uns, ihm anzunähern.

Red Deer · Rothirsch // 1/2000 sec | f/6.3 | ISO 200 | 480 mm

Vor der Anhöhe, wo er zuvor noch gelegen ist, machen wir Halt – und plötzlich steht eine Hirschkuh nur etwa zehn Meter entfernt direkt vor uns. Konzentriert richte ich die Kamera auf sie und schaffe es, sie abzulichten. Ich habe sogar Zeit, verschiedene Blickwinkel auszuprobieren. Eine so nahe Begegnung hätte ich mir nie erträumt!

Red Deer · Rothirsch // 1/2000 sec | f/6.3 | ISO 160 | 600 mm

Vorsichtig entfernen wir uns nach dieser tollen Begegnung von den Tieren und gehen wieder hangabwärts. Es geht auf der anderen Talseite weiter, wo wir zuvor schon zahlreiche Hirsche beobachtet haben.

Red Deer · Rothirsch // 1/2000 sec | f/6.3 | ISO 125 | 600 mm

In einiger Entfernung beobachten wir einen Hirschstier, der gemütlich im Gras liegt. Wir wandern weiter bergab, weg vom Hirschen, um ihn nicht zu verscheuchen. Plötzlich sehen wir eine Gämse, die über eine schneebedeckte Fläche unter uns springt – zu schnell, um ein Foto zu schiessen. Diese Beobachtung bleibt jedoch nicht die letzte, denn wir begegnen noch einigen weiteren Gämsen.

Northern Chamois · Gämse // 1/2000 sec | f/6.3 | ISO 200 | 600 mm
Diese Gämse hat ihr linkes Horn verloren.

Northern Chamois · Gämse // 1/2000 sec | f/6.3 | ISO 400 | 600 mm

Eine andere Gämse steht an einem Hang.

Northern Chamois · Gämse // 1/2000 sec | f/6.3 | ISO 400 | 600 mm

Leider springt sie bald davon, was wir eigentlich vermeiden wollten. Über die Bilder, die dabei entstanden sind, freue ich mich jedoch sehr.

Northern Chamois · Gämse // 1/2000 sec | f/6.3 | ISO 250 | 600 mm

Northern Chamois · Gämse // 1/2000 sec | f/6.3 | ISO 500 | 600 mm

Im Arvenwald beginnt es zu regnen.

Zurück im Arvenwald bewegen wir uns beinahe lautlos, denn auch hier könnten sich Hirsche aufhalten. An einem Baumstamm angelehnt, warten wir eine Weile in der Hoffnung, dass Hirsche vorbeigehen. Als es heftig anfängt zu regnen, entscheiden wir uns, wieder heimzukehren.
Nach zehn Stunden im Freien bin ich zwar müde, aber sehr zufrieden mit unseren Erlebnissen. Noch nie bin ich Hirschen so nahegekommen, und dass ich danach auch noch Gämsen beobachten konnte, hat mich sehr gefreut. Gerne würde ich auch in Zukunft an solche Orte zurückkehren, um die faszinierende Bergwildnis zu erleben.

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